Über die Kunst der Orgelimprovisation

Was bedeutet Orgelimprovisation?

Improvisieren bedeutet „Musizieren aus den Stehgreif“ – streng genommen ohne jedwede schriftliche Vorlage und/oder Fixierung. Das Musizieren aus dem Stehgreif setzt selbstverständlich – wenn das Ergebnis überzeugend sein soll – dennoch eine gewisse Erfahrung voraus, Erfahrung im Hinblick auf bestimmte Stilistiken, Formen und Tonsprachen, Hör-(auditive) und sogar grifftechnische (haptische) Erfahrung spielen dazu ebenfalls eine gewichtige Rolle. Diese gerade genannten Erfahrungen ergeben sich notwendigerweise zunächst doch aus schriftlich fixiertem und praktisch erarbeitetem Material, das dann später für das „reine Improvisieren“ verlassen und gleichsam auf diese Kunst übertragen wird. Darauf soll später noch näher eingegangen werden.

Kleine geschichtliche Einführung

Über die wirkliche Entstehung der Kunst der Orgelimprovisation in vielen komplexen kleinen Schritten innerhalb eines kompakten Aufsatzes zu referieren, sprengt hier den Rahmen – dazu seien Aufsätze, Buch- und Zeitschriftenbeiträge zu diesem Thema von Hans Haselböck empfohlen. Hier erfolgt nur eine äußerst knappe Zusammenfassung: Die Anfänge der Orgelimprovisation sind die Anfänge der Orgelliteratur; man kann sogar – fast provokativ – behaupten: die Anfänge der Orgelimprovisation und somit Orgelliteratur sind aus purer Langeweile entstanden; bei der so genannten Alternatim-Praxis, während der Chor- oder Scholahälften abwechselnd musizierten, wurde bspw. irgendwann jedes zweite zu singende Verspaar durch ein knappes Orgelzwischenspiel ersetzt, um Eintönigkeit zu vermeiden und Abwechslung „ins Spiel zu bringen“; dies galt in größeren Kirchen, die über eine Orgel verfügten, für Stundengebetsformen und Messen. Aus dieser Improvisierpraxis sind später Suitenkompositionen über gregorianische Messen, Hymnen und Antiphonen sowie choralfreie Intonationen entstanden.

Schon dort – dies gilt bis heute für die gesamte Improvisierpraxis und auch Orgelliteratur – war eine frühe Trennung zwischen choralgebundenen (A) und (choral-)freien (B) Werken bzw. Improvisationen zu erkennen. Gruppe B spaltete sich später in choralgebundene Werke zu gregorianischen Themen sowie Werke zu Chorälen.

Das (mehr oder weniger kunstvolle und mehr oder weniger kurze bzw. lange) Choralvorspiel und die Choralpartita (Variationsreihe über einen Choral) bildete später – etwa ab der 2.Hälfte des 17. Jahrhunderts – einen wesentlichen Bestandteil der Improvisier- und Komponierpraxis für Orgel. Über Orgelimprovisation im 18.Jahrhundert ist wenig bekannt; das Orgelschaffen zeigt, zwar ausgehend vom „galanten Stil“ (Bach-Söhne), so doch aber später eher eine gewisse Phase der Dekadenz (Opern- und Balletttranskriptionen für Orgel usw.), während im 19.Jahrhundert die Kunst des Improvisierens wieder an Wert gewann und eigenständig gepflegt wurde.

Ausgehend von der sog. Deutschen Romantik und den „Transport“ Adolph Friedrich Hesses dieser Kunst nach Belgien und Frankreich, bildete sich dort (Lemmens – Widor – Franck – Vierne – Dupré – Messiaen – Langlais – Tournemire u.v.a.) eine große französische Tradition des Improvisierens; Titanen auf dem Gebiet waren zweifelsohne Marcel Dupré und der etwas weniger bekannte und berühmte Charles Tournemire. Bis in die heutige Zeit hinein (Roth, Guillou, Escaich, Blanc u.v.a.) besteht die französische und auch deutsche (Lehrndorfer, Seifen u.a.) Tradition und Pflege der Orgelimprovisation fort und wird nach einer Neubelebung, die in Deutschland viel später als in Frankreich erfolgte (nämlich erst seit wenigen Jahrzehnten) wieder mit Begeisterung gepflegt und zelebriert. Die Orgel ist das einzige Instrument, auf dem innerhalb der so genannten „ernsten Musik“ noch improvisiert wird – während Gottesdienstformen und Andachten und ggf. auch bei Konzerten; ansonsten lebt diese Kunst weitestgehend nur in der Unterhaltungsmusik und dem Jazz fort, während in der Barockzeit auf allen Tasteninstrumenten und während des 19.Jahrhunderts auch auf dem Klavier (Liszt) improvisiert wurde.

Wozu Improvisation?

Zunächst muss kurz ausgeholt werden anhand einer weiteren Frage, nämlich derjeniger, ob man so genannte „Stilkopien“ (Improvisationen bspw. im Barockstil, romantischen Stil usw.) als eigenständige Improvisationen bezeichnen dürfe oder ob sie nichts weiter als epigonale Abklätsche darstellten, während „wahre Improvisationen“ immer eine eigene Form und Sprache entwickeln sollten.

Der Verfasser dieses kleinen Aufsatzes möchte die Frage nach den Stilkopien mit einem eindeutigen „JA“ beantworten, aus mehreren Gründen: erstens, weil ein gut improvisiertes barockes Trio bspw. – obwohl der Stil existiert – so, wie es improvisiert wurde, nie als Noten gegeben hat; zweitens, weil sowieso auch „zeitgenössische“, „moderne“ Improvisationen im Grunde genommen genauso Stilkopien sind wie barocke Improvisationen, da es einfach heutzutage nichts gibt, was es nicht schon gegeben hat, und sei es das Zersplittern von Glas neben der Orgel oder der Einsatz der flachen Hand auf der Orgelbank, seien es die ungewöhnlichsten Registrierungen und Kakophonien – all dies hat es schon genau so gegeben wie die Stilistiken und Formen des Barockzeitalters, allein der zeitliche Abstand zur Vorlage ist kürzer, das Prinzip ist aber gleich.

Alle großen Orgelkomponisten waren a) auch Improvisatoren und haben b) dabei an ihre eigenen Vorbilder angeknüpft.

Drittens ist die absolute Überzeugung des Verfassers diejenige, dass man die immer wieder postulierte „eigene Sprache“ des „wahren Improvisators“ nur dann finden kann, wenn sie auf einer umfangreichen geistigen und auch handwerklichen Erfahrung der geschichtlichen und epochalen Hintergründe fußt, was heißen soll, dass man eine profunde Kenntnis früherer Stile und Formen – am besten von der Renaissance bis zur Gegenwart – haben sollte, um aus der „Durchlebung“ dieser Hintergründe eine eigene Sprache entwickeln zu können; „man fängt ja auch nicht an, ein Haus zu bauen, indem man mit den Dachziegeln anfängt“ … !

Die Durchdringung der bereits vorhandenen Stile birgt übrigens mehrere Vorteile. Bietet sich einem Improvisation praktizierenden Organisten eine Gelegenheit, ein kostbares historisches Instrument aus dem 17.Jhdt. zu spielen, so wird er mit französisch-symphonischen Improvisationen nicht weit kommen; findet er sich indessen bei einer anderen Gelegenheit an einem deutsch-romantischen, pneumatisch gesteuerten Großinstrument wieder, so sind Improvisationen altitalienischer Toccaten o.ä. deplaziert. Im Übrigen hält der Verfasser Improvisatoren, die in jedweder Stilistik ein wenig zu Hause sind, für weitaus überzeugender, als solche, die aus nichts als ihrer so genannten „eigenen Sprache“ bestehen; auch für die Liturgie kann sensible und feinfühlig betriebene Abwechslung der Stile (alt – klassisch – barock – romantisch – modern etc.) eine Menge Farbigkeit und Abwechslung zur Lebendigkeit beitragen; jeder mögliche Zuhörer wird einer wiederum anderen Epoche – auch als „blutiger Laie“ – geneigt sein, und durch stilistische und formale Vielschichtigkeit hat man eine viel größere Chance, mehrere EINZELNE seiner Zuhörer und Mitfeiernden irgendwo „packen“ zu können.

Ganz „platt“ zusammengefasst, erbaut sich der eine besonders an einem Vorspiel im Mozart-Stil, während sich die andere an einer deutsch-romantischen Meditationsmusik erfreut und den dritten ein rauschendes, modernes Finale begeistert.

Das Erlernen der bereits vorhandenen, durch die Geschichte der Orgelmusik verlaufenden Stile ergibt sich notwendigerweise aus dem Studium der Orgelliteratur. Zunächst ist dies als „Prinzip“ zu verstehen und, um einer Überforderung zuvorzukommen, auf den Parameter des „Grades“ zu sprechen zu kommen. Bei der gewählten Orgelliteratur als Vorlage sollte nämlich in frühen Stadien, graduell gesehen, leichte bis höchstens mittelschwere Literatur ausgewählt werden. Zu beachten ist demgegenüber, dass der Begriff „Stil“ weit gefasst, elastisch und sehr dehnbar ist; es gibt manchmal mehr „Übergangsstile“ als „reine Stile“, während in anderen Bereichen die Stile enger gefasst und damit besser greifbar sind (wie etwa der altfranzösische Barockstil).

Choralgebundene Improvisationen sind anfangs in jedem Falle leichter handzuhaben, weil man den Cantus firmus als etwas verwenden kann, an dem man sich festhalten kann, während man bei den übrigen Parametern (Begleitstimmen, Form etc.) erste Gehversuche macht. Bei choralfreien Improvisationen sind „Haltegriffe“ bspw. bei Ostinato-Techniken zu finden, etwa ein immer gleich bleibendes Pedalmotiv.

Die Liedbegleitung als Ausgangspunkt für Improvisationen

Ein letztes sei noch einmal zur Beziehung zwischen Literaturvorlage und Improvisation besagt: obwohl dies dann und wann gepflegt wird, hält der Verfasser es für sehr ungebräuchlich, Literaturvorlagen direkt auf Improvisationen zu verwenden, z.B. die ersten Zeilen einer Toccata (Vierne, I. Symphonie/Finale, Widor, V.Symphonie/Toccata, Peeters op.28) zu spielen, darunter einen anderen Choral zu legen und das motorische Spiel- und Klangmuster einfach auf den gewählten Choral entsprechend zu übertragen. Damit ist nach Meinung des Verfassers zum einen der Respekt vor der Literaturvorlage verletzt und zum anderen der „kreative“ Anteil der eigenen Improvisation erheblich in Frage gestellt. Ein Mindestabstand sollte gewährleistet sein; das motorische Motiv etwa einer Choraltoccata sollt so weit umgeformt und verändert werden, dass die Vorlage nicht mehr ganz so direkt erkennbar ist.

Übrigens eignen sich auch Klavier- und Cembalowerke in gewisser Hinsicht vortrefflich als Inspirationsquellen für Improvisationen. Im fortgeschrittenen Stadium kann auch das Hören von Kammer- und Orchestermusik Ideen vermitteln.

„Improvisation und Papier ?“

Notierte Anhaltspunkte können, vor allem in frühen Lernstadien, eine wichtige Hilfestellung für Improvisationen darstellen. Mit dem Notieren von Plänen muss dennoch in jedem Stadium vorsichtig umgegangen werden. Je mehr eine Improvisation auskomponiert ist – hierin liegt eigentlich schon an sich ein Paradoxon – desto weniger Freiraum lässt das Notierte zum „wirklichen“ Improvisieren. Es ist daher ratsam, eher gewisse Gerüste und/oder Verlaufspläne, gewisse Stützen, etwa auch ein Fugen- oder Ritornellthema oder eine skizzierte Figur (für eine Toccata) zu notieren, an die man sich auf der einen Seite halten kann und die dem Improvisierenden auf der anderen Seite genügend Spielraum lassen. Eine Fuge kann demgegenüber einen schriftlich fixierten ungefähren Tonarten- und Einsatzverlaufplan erhalten; etwas anderes ist das Notieren von ungefähren Verläufen einer größeren, bspw. symphonischen Form unter Einbezug der Registrierungen. Bei besonders großen Instrumenten und groß angelegten Improvisationen mit viel Klangfarbenwechsel können die geplanten Registrierungen selbstverständlich, mit Manual- und Pedalangaben versehen, eine wichtige Stütze sein.

Insgesamt allerdings sollte man, was die Musik selbst betrifft, mit etwas ausführlicherer Notation beginnen und dann, je nach Stadium, diese nach und nach „abspecken“ und mit weniger Notiertem auskommen.

Registrierung

Die Registrierung von Improvisationen wurde im obigen Abschnitt schon angesprochen; auf sie sollte beim Improvisieren das gleiche sorgfältige Augen-, oder, besser gesagt, „Ohrenmerk“ verwendet werden wie beim Registrieren von Literaturstücken. Leider wird das Registrieren bei Improvisationen dann und wann stiefmütterlich behandelt und vernachlässigt. Stil kopierende Improvisationen sollten entsprechend stilimmanent registriert werden; größere, freiere, experimentellere Formen sollten, vor allem beim Vorhandensein einer Setzeranlage, entsprechend mehr bunt und facettenreich registriert werden. Überhaupt eignet sich das Improvisieren in besonderer Weise dazu, vor allem Orgeln, die ein ganz eigenes klangliches Profil besitzen, mit all ihren Besonderheiten und Farbkombinationsmöglichkeiten darzustellen.

Interpretation

Auch hier gilt es, eine Parallele zum Literaturspiel einzuhalten. Auch beim Improvisieren klingt es viel überzeugender, wenn man mit einem gesunden, immer dem jeweiligen Instrument im jeweiligen Raum entgegenkommenden Maß von Agogik, Artikulation und Elastizität musiziert ! Eintönige, leblose, nüchterne, gleichförmige Spielweise kann einer ansonsten als gelungen zu bezeichnenden Improvisation ebenso viel an Überzeugungskraft und Qualität mindern als eine allzu stereotype Registrierung.

Bewusstsein und Konzentration

Beim Spielen von Orgelliteratur ist vom ersten bis zum letzten Ton immer ein gesundes Maß an Konzentration sowie ein gesunder, auf die Stücke bezogener Wechsel von An- und Entspannung vonnöten sowie ein waches Bewusstsein für die technischen, geistigen, musikalischen und künstlerischen Anforderungen. Dies ist beim Improvisieren in noch überhöhtem Maße geboten; besonders die Wachsamkeit und das ganz bewusste Ausmusizieren eines jeden Akkordes / Klanges / Tones sind hierbei noch wichtiger als beim Literaturspiel, weil man sich beim Literaturspiel dann und wann immer wieder einmal dabei ertappt, besonders sicher einstudierte Stellen zwar in keiner Weise nachlässig und mechanisch, so doch aber mit etwas entspannterem Geist ausführt. Da dies beim „Musizieren aus dem Augenblick heraus“ höchstens zum Spielen klischeehafter, wirklich auswendig gelernter Formeln führen würde, ist, wie gesagt, ein gesteigertes Bewusstsein für jeden Moment, eine besondere Wachsamkeit und schnelles Denken, Entscheiden, rasche analytische Aufnahme seiner eigenen Ideen, vonnöten.

Möglicher Inhalt einer Unterrichtsstunde im Fach Orgelimprovisation

Aus der Erfahrung des Verfassers heraus ist es günstig, eine Unterrichtsstunde im Fach Orgelimprovisation - dreizuteilen, wobei die drei Teile niemals gleich lang sind; begonnen mit einer „Pflichtübung“: Liedbegleitung in verschiedenen Satztechniken, Stilistiken und möglicherweise auch verschiedenen (transponierten) Tonarten als erster Teil, ca. 15% der gesamten Einheit, gefolgt von der Beschäftigung mit einer Choralbearbeitung (oder –partita oder auch Choralvariationen oder -phantasie) über das jeweilige Lied (diese immer in einem wechselnden Stil (über die Wochen verteilt): barock, altfranzösisch, „klassisch“, früh-, hoch- und spätromantisch, neobarock, neoklassizistisch, „symphonisch“ – als „Partita“ etwa barock / altfranzösisch und/oder gemäßigt modern mit bspw. der Satzfolge „Choral – Bicinium – Trio – Cantus coloratus – Fughette“ oder „Plein Chant – Fugue à 5 (sehr schwer) – Duo – Trio – Basse de Trompette (schwer) – Récit de Nazard (Tierce)(Voix humaine) – Dialogue sur les Grands Jeux“; dieser mittlere Teil könnte ca. 25-30% der Unterrichtseinheit ausmachen, während sich im Schlussteil von den „Ketten“ der Choräle befreit werden kann: Sonate oder Symphonie (einzelne Sätze), Charakterstück, Fuge (ausführlich), Passacaglia/Chaconne, Variationen, Text- oder Bildparaphrase, eigene Ideen.

Dies ist zweifelsohne eine Idealvorstellung, die (dankenswerterweise) auch dann und wann erreicht werden kann, oft aber – je nach Begabung und Möglichkeit/Willen/Motivation der intensiven Beschäftigung und des Zeitaufwandes des/der jeweiligen Studierenden – ist es vonnöten, den beiden ersten vorgeschlagenen „Choral“-Teilen einer Unterrichtseinheit mehr zeitliche Ausdehnung einzuräumen und manchmal gar auf den freien dritten Teil verzichten zu müssen – vor allem in frühreren Lernphasen.

Der dritte Teil kann und sollte aber bereits in frühen Lernstadien gleich mit eingebunden werden, z.B. mit nur EINER zu improvisierenden Stimme (Mut zur Einstimmigkeit beim Improvisieren !) bei wechselnder Klangfarbe, um in aufs wesentliche reduzierter Art und Weise von Beginn an buchstäblich „Spiel-Raum“ für eigene Kreativität zu lassen und dazu noch besonders zu ermutigen.

Literaturempfehlungen

Gaar, Rainer – Orgelimprovisation (Carus Verlag)

Wagner, Peter – Orgelimprovisation mit Pfiff (2 Bde., Strube Verlag)

Haselböck, Hans – Vom Glanz und Elend der Orgel – ein Lesebuch (Atlantis Musikbuch)

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